FREISTATT |
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deutsch 100 Min. | 677741 DE | ||
deutsch 104 Min. | 777741 DE |
Originaltitel: | Freistatt | |
Filmlänge: | BD 98 Min. ohne Abspann | |
Regie: | Marc Brummund | |
Musik: | ||
Darsteller: | Louis Hofmann, Max Riemelt, Alexander Held, Stephan Grossmann, Enno Trebs, Langston Uibel, Justus Rosenkranz, Anna Bullard, Jonas Berg, Katharina Lorenz, Uwe Bohm | |
Deutschland 2015 |
Der Geschmack von Freiheit des bewegten Revoltenjahres 1968 endet für den 14jährigen Wolfgang auf Betreiben des autoritären Stiefvaters in einem Erziehungsheim. Die von der Diakonie betriebene Anstalt mit dem zynischen Namen "Freistatt" im norddeutschen Diepholz bei Bremen ist nichts anderes als ein Privatgefängnis, in das Kinder ohne gerichtliche Verurteilung eingesperrt werden.
Die christliche Kirche, in diesem Fall die evangelische, läßt bis in die 1970er Jahre in seliger Eintracht mit dem BRD-Regime unbequeme Jugendliche in Arbeitslagern verschwinden. Statt Schulunterricht zu erhalten müssen die Jungen Zwangsarbeit leisten. Torfstechen im Moor ist eine Schinderei. Ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit, die körperliche und psychische Unversehrtheit werden die Jugendlichen für die Profite der kirchlichen Trägerschaft ausgebeutet und brutal diszipliniert.
Tummelplätze für sämtliche Sadisten der Republik, die sich ohne pädagogische Qualifikation als Erzieher und Aufpasser an den wehrlosen Heranwachsenden vergehen dürfen. Unter den sehenden Augen der Betbrüder ist Wolfgang auch den brutalen Mißhandlungen der Mitgefangenen ausgeliefert. Seine wilde Widerspenstigkeit torpediert deren resignativen Gehorsam. Kollektive Bestrafungen wegen der Eskapaden eines Einzelnen wollen die Jungs nicht hinnehmen.
Weglaufen geht nicht. Das Moor bildet eine natürliche Barriere. Totale Isolation von der Außenwelt. Wolfgang hat ein langes Martyrium vor sich, bis die Dinge so eskalieren, daß sich seine Leidensgenossen hinter ihn stellen. Das Blatt scheint sich zu wenden, doch es ist nur eine Freiheit auf Raten.
Die nach wahren Ereignissen konstruierte Geschichte von Wolfgang erinnert an den aufwühlenden norwegischen Film "King of Devil's Island", der auf dortigen Geschehnissen im Jahr 1915 beruht.
Die Bilder aus "Freistatt" erzählen nicht von Zuständen im Kaiserreich, nicht vom Nationalsozialismus, nicht von der DDR. Doch sie gleichen denen, die man aus historischen Darstellungen jener Epochen kennt.
Die jüngere Generation staunt, daß die ach so rechtsstaatliche BRD noch vor wenigen Jahrzehnten ebenfalls ein Land mit furchteinflößend menschenrechtsfreien Räumen war. Und die in jener Zeit Aufgewachsenen sind geschockt, von alledem nichts mitbekommen zu haben. Mal wieder! Man hat ja nie etwas gewußt in Deutschland!
Weder die Evangelische Kirche noch die Bundesrepublik Deutschland wurden wegen ihrer massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit gestürzt, verurteilt und abgeschafft, so wie es mit anderen deutschen Unrechtsregimes im 20. Jahrhundert geschah. Beide Mächte existieren unverändert weiter, glauben mit halbseidenen Erklärungen und lächerlichen Entschädigungszahlungen das düstere Kapitel vom Tisch fegen zu können. Man schützt die Täter über Jahrzehnte, bis die Zeit sie zu sich nimmt und sie nicht mehr belangt werden können. Posthume Verurteilungen tun ihnen nicht mehr weh. Eine konsequenzbehaftete Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen durch Kirche und Staat hat in der BRD nie stattgefunden. Der Film "Freistatt" mahnt eben dies an.
Die diakonische Einrichtung "Freistatt" bei Diepholz geht zurück auf eine Gründung des berühmten Pastors Friedrich von Bodelschwingh und gehört zu den in Bielefeld ansässigen "v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel".
Wer "Freistatt" verstehen will, kommt um einen Exkurs in die Historie der Pädagogik nicht herum. Das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Verständnis von Erziehung zielte auf eine Konformität der Heranwachsenden, die sich dem gesellschaftlichen Apparat von Wirtschaft und Militär ein- und unterordnen sollten. Zu diesem Zweck erfolgte die Institutionalisierung der Erziehung in Form der Etablierung flächendeckender öffentlicher Beschulung. Flankierend erfaßte man auf Rechtsgrundlage der neu eingeführten Jugendfürsorge "schwer erziehbare" Kinder und Jugendliche zur Unterbringung in Erziehungsanstalten, die großteils in kirchlicher Trägerschaft standen. Der Hausvater, ein Diakon, hatte die absolute Macht über die Zöglinge. Das damalige Menschenbild ging davon aus, daß Kinder mit Gewalt zu gefügigen Charakteren geformt würden. Diese Denkweise zog sich bis weit in das 20. Jahrhundert durch die Praxis sowohl kirchlicher als auch staatlicher Erziehungseinrichtungen, und sie förderte den Geist der deutschen Diktaturen. Beunruhigend ist die Feststellung, daß dies auch im heute noch existierenden BRD-Staat seine Fortsetzung fand. Auch im Jahr 2015 werden skandalöse Zustände in privaten Jugendheimen aufgedeckt. Es sind Einzelfälle infolge gravierenden Versagens der Aufsichtsbehörden, aber jeder einzelne ist einer zu viel.
Ergänzend zum Film bietet die DVD ein ausführliches Interview mit Wolfgang Rosenkötter, der in den 1960er Jahren in "Freistatt" untergebracht war. Jahrzehntelang hatte er wie die schätzungsweise 800.000 Heimkinder jener Ära das erlittene Leid verdrängt, um leben zu können. Jetzt stand er nach ausgiebigen Recherchen Pate für die Figur des Wolfgang in dem aufrüttelnden Kinofilm. Aus Rosenkötters Erinnerungen entstand am Originalschauplatz die Szenerie, in der sich die Geschichte des fiktiven Wolfgang abspielt.
Jungschauspieler Louis Hofmann erweckt den rebellischen Knaben zum Leben. Ein vitaler Junge aus einem Arbeiterviertel, der leidenschaftlich an Fahrzeugen herumschraubt und klare Zukunftspläne hat.
"Ihr kriegt mich nicht! Niemals!" ruft Wolfgang trotzig. Diese innere Stärke, die er schon im Widerstand gegen den prügelnden Stiefvater Heinz entwickelt hat, ist seine Rettung. Er läßt sich nicht brechen. Louis Hofmann vereint die mutige Standhaftigkeit eines selbstsicheren Kämpfers mit der Verletzlichkeit eines stark auf die Mutter fixierten Teenagers.
Mit Musik aus den 1960er Jahren setzt der Film am Anfang Akzente, die durch schnelle Schnitte von symbolträchtigen Motiven aus schrägem Kamerawinkel verstärkt werden. Ein flüchtiger Blick auf ein weißes Pferd aus dem Fenster des VW-Bus ist Wolfgangs letzte Ahnung von Freiheit. Damit endet auch schon jede Hoffnung auf ein künstlerisch wertvolles Kinoerlebnis.
Glaubt man in den grobschlächtigen, überbelichteten Bildern noch ein Stilmittel zur Verdeutlichung einer Rückblende in bessere Zeiten zu sehen, so belehrt einen der Fortgang des Films eines Schlechteren. Es bleibt nämlich dabei, daß der ganze Film aus so einem künstlich überkontrastierten und überblendeten, schemenhaften Bild besteht. Das bereitet nach kurzer Zeit Augenschmerzen. Man darf sich ernsthaft fragen, weshalb, zumal bei so einem wichtigen Thema, kein vernünftiges Filmmaterial verwendet wird. Oder hat man nach dem Schnitt den kompletten Film durch einen oprischen Schredder-Filter gejagt? Grauenhafte Kameraregie kommt noch hinzu. Die Generation Smartphone mag sich diesen Bildschrott auf ihren Miniatur-Displays gerne reinziehen. Auf einem großen HD-Bildschirm oder gar auf der Kinoleinwand ist das kaum erträglich. Regisseure, die keine öffentlichen Fördergelder bekommen, haben ausreichend bewiesen, daß man mit minimalem Budget mit digitalem Equipment aus dem Supermarkt heutzutage hochauflösende, naturgetreue Filmbilder herstellen kann. Es hilft der Aufklärung über die Menschenrechtsverletzungen in westdeutschen kirchlichen Kinder- und Jugendheimen nicht, wenn der mit hoher Authentizität inszenierte Spielfilm dazu als visuelle Pseudokunst das Publikum verprellt.
(Pino DiNocchio)
677741 DE - mit Wendecover - | |||
Tonspur: | Deutsch | ||
Untertitel: | D, E, F | ||
Länge: | 100 Min. | ||
Bild: | 16:9 Widescreen 1:2.35 | ||
Extras: | Wendecover, Audiodeskription, Deleted Scenes, Interview mit dem Zeitzeugen Wolfgang Rosenkötter, Booklet mit Hintergrundinformationen |
777741 DE - mit Wendecover - | |||
Tonspur: | Deutsch | ||
Untertitel: | D, E, F | ||
Länge: | 104 Min. | ||
Bild: | 16:9 Widescreen 1:2.35 | ||
Extras: | Wendecover, Audiodeskription, Deleted Scenes, Interview mit dem Zeitzeugen Wolfgang Rosenkötter, Booklet mit Hintergrundinformationen |